[...]

Deutschland nimmt uns auf [PDF-Download]

 

Etzels Cousine schrieb, daß sie ein Zimmer für uns freigemacht hatte. Natürlich war auch ihr Haus voll fremder Menschen. Ihr Sohn und seine Frau hatten nur ein Zimmer und eine Küche. Wir machten uns auf den Weg nach Aachen. Die lange Reise in einem Eilzug gab uns Gelegenheit, das Ausmaß der Zerstörungen und der noch nicht beseitigten Ruinen, besonders im Ruhrgebiet, erschüttert wahrzuneh­men. Viel Landschaft zog an uns vorbei; sie hätte lieb und vertraut sein sollen, aber ich konnte sie noch nicht annehmen, denn auch im Januar war alles grün. Ich glaubte, soviel Grün nicht ertragen zu kön­nen; ich sehnte mich nach Chinas gelber Erde, in der jeder grüne Fleck eine besondere Leuchtkraft hat.

Wir wurden liebevoll in Aachen aufgenommen. Das Schlafzimmer wurde uns überlassen; wir richteten uns mit unseren wenigen Habse­ligkeiten darin ein. Kohlen waren sehr knapp; nur die Küche konnte etwas warm sein. Eine ganz große Freude erlebten wir: Ein Hamburger Spediteur hatte alle unsere vierundzwanzig Kisten von Bord geholt. Allerdings wußten wir nicht, ob noch etwas von unserem Besitz darin war. Wir hörten von Mitreisenden, die, als sie aufmachten, nur leere Kartons und alte Zeitungen in ihren Kisten fanden. Wir mußten warten und hoffen.

Etzel kam nach Hause, aber er kannte seine Vaterstadt nicht mehr wieder. Ganze Straßenzüge waren ausgelöscht; er fand sich nicht zu­recht, weil er Häuser suchte und nur Trümmergelände fand. Von sei­nem großen Elternhaus standen nur noch einige Stücke der Erdgeschoßmauer. Auch ihre neugotischen Bögen mit der sorgfältigen Steinmetzarbeit des vorigen Jahrhunderts wurden bald abgerissen, um einem nüchternen Neubau Platz zu machen.

Das traurige Stadtbild entsprach unserer Lage. Diese war hier nichts Besonderes; wir teilten Wohnungs- und Arbeitslosigkeit mit Millionen. Ich dachte, meine Englischkenntnisse wären verwertbar, und stellte fest, daß schon viele andere, auf sie gestützt, sich die Stel­len erobert hatten. Ich hoffte, ich könnte in der Volksbildungsarbeit nützlich sein, die das Lebenswerk meines Vaters war, und die nach der Unterdrückung im Dritten Reich wiedererstand. Man empfing mich freundlich, schickte mich mit Empfehlungen hierhin und dorthin nirgendwo gab es Geld.

Meine Mutter, die in den bescheidensten Verhältnissen lebte, fand Geld für uns. Sie verriet nie, was für Quellen sie erschloß; sie schrieb nur ab und zu leichthin: "Mein Vetter Charles hat es mir geschickt, weil wir ihm vor dem Ersten Weltkrieg unsere Wohnung in Berlin für einen Sommer geliehen hatten," oder: "Ich werde als Vorleserin von reichen alten Damen gut bezahlt." Sie behielt nichts für sich und schickte das Geld mir. Die zwei mal achtzig Dollar, die wir aus Peking mitnehmen durften, waren schnell verbraucht, aber mit Mutters Hilfe konnten wir Etzels Cousine wenigstens das Essen bezahlen.

Etzel wurde krank; es fehlte ihm nichts Bestimmtes; ihn drückte unsere Lage besonders, weil er in Aachen immer als ein reicher Mann bekannt gewesen war. Eines Tages lief ich aus dem Haus, das am Stadtrand lag, und die Landstraße immer geradeaus. Durch meine Tränen der Verzweiflung konnte ich gerade noch die Bäume erkennen, die die Straße säumten. Wenn ich heute diese Baumreihe sehe, nicke ich ihr dankbar zu, denn wenige Tage später griff das Schicksal nach uns und zog uns aus dem schwarzen Loch, in dem uns kein Licht mehr

328

leuchtete. Die Wende war nicht meinen Mühen und Fähigkeiten zu verdanken, sondern Etzel. Es gab in Aachen noch Menschen, die sich seiner entsannen, die in ihm jemanden sahen, auf den seine Vaterstadt stolz sein konnte. Er wurde aufgefordert, Vorträge zu halten. Der Vor­sitzende des Kulturausschusses wurde auf ihn aufmerksam. Es ginge doch nicht an, meinte er, daß Consten nun, da er heimgekehrt war, gezwungen sei, an einem anderen Ort Unterkunft zu suchen. Aachen müsse ihn halten. Um ihn zu halten, mußte man mir eine Stelle ver­schaffen, denn Etzel war dreiundsiebzig.

Wir wurden gebeten, uns in der Hochschule einzufinden, an einem Tage, an dem die Kultusministerin anwesend war. Wir wurden ihr vorgestellt. Sie sagte, sie könne nicht mehr tun, als mir einen Lehrauf­trag aus einem Fond für Vertriebene zu geben. Wir waren so glücklich! Es störte uns gar nicht, daß von einem Lehrauftrag nicht einmal ein einzelner Mensch leben kann, geschweige denn zwei. Nach einigen Monaten fiel dies dem Assistenten des Kunsthistorischen Instituts auf; er sorgte dafür, daß ich Angestellte wurde; ich war nun Bibliothekarin. Ich habe diese Arbeit sechs Jahre lang getan.

Wir fanden eine Wohnung in einem Dorf bei einer großen Zeche in der Nähe der Stadt, mit der der Ort durch eine Buslinie verbunden war. Das war das zweite Wunder. Wieder half Mutter uns, den sogenannten Baukostenzuschuß aufzubringen. Es waren zwei Zimmer und eine geräumige Küche in einem Neubau. Nun, Monate nach unserer Ankunft in Hamburg, konnten wir unsere Kisten kommen lassen.

Wir kauften sogar Möbel, ein altmodisches Sofa mit einem Stuhl; der zweite wurde uns dazu geschenkt, weil er nur drei Beine hatte. Ein alter Bergmann hat das fehlende Bein so sorgfältig nachgeschnitzt, daß ich heute nicht mehr weiß, welches es ist. Ein großer ovaler Tisch, der wackelte, aber in vierzig Jahren nie zusammengebrochen ist, sollte Etzels Arbeitstisch werden. Es reichte noch zu einem Ohrensessel für ihn, aber weiter nicht. Einen alten Gartentisch von Etzels Cousine strich ich an; er wurde Eßtisch; zwei Küchenstühle kamen dazu. Weil wir sonst, außer den wenigen kleinen aus China, keine Möbel hatten, ließ ich vom Schreiner offene Regale aus rohem Holz machen; sie wurden mit museumswürdigen Textilien zugehängt: Kleidung, Ge­schirr, Antiquitäten, alles fand in ihnen Platz. Auch für die japani­schen Matratzen wurden rohe Gestelle gezimmert. Denn, oh Wunder: Es fehlte aus unseren Kisten fast nichts, und nur weniges war beschä­digt. Der Hausbesitzer und seine beiden Söhne halfen nach Kräften mit dem Aufmachen und Auspacken der Kisten; sie waren rührend, Ich nähte und hämmerte und malte. Ich machte ein Schmuckkästchen aus den drei Räumen - kein Kunststück, wenn zwanzig Kisten voll Antiquitäten zur Verfügung stehen.

Am Tage des Umzugs fuhr ich allein in die neue Wohnung. Etzel sollte beim Auspacken und Einräumen nicht zugegen sein. Er konnte zwar Sattelzeug flicken und Pferde beschlagen, aber Bilderaufhängen hatte nicht zu seinen Ausbildungsfächern gezählt. Ich hatte in Peking für unser glasiertes Tonpferd aus dem 8. Jahrhundert einen genau nach seiner Form ausgepolsterten Kasten machen lassen. Darin wähnte ich es ganz sicher. Als ich an jenem Tage den Deckel hob, sah ich, daß ein Kopf zerbrochen war. Schlimmeres konnte kaum passiert sein. Und doch - der Kasten enthielt ja noch alle Stücke, jeden Splitter. Diesen Kummer durfte Etzel nicht erleben! Auf keinen Fall! Die ganze erste Nacht im neuen Heim habe ich geklebt, Stück um Stück zusammengepaßt. Etzel kam mit seiner Cousine schon ganz früh am nächsten Morgen; die Neugier trieb sie. Ich war in der Nacht nicht im Bell gewesen - das Pferd stand in seiner vollkommenen Schönheit auf dem kleinen chinesischen Tisch vor dem Fenster.

Viele liebe Menschen haben uns geholfen. Das Schicksal hat uns davor bewahrt, von dem geretteten Besitz etwas verkaufen zu müssen. Mit großer Dankbarkeit denke ich an die Anfänge unseres Lebens in Aachen zurück. Die lokalen Zeitungen brachten Artikel über uns. Es gab Möglichkeiten, durch Vorträge etwas dazuzuverdienen. Bald hal­ten wir einen Kreis von Freunden, auf die wir uns verlassen konnten.

Nun, da uns ein sicheres Leben geschenkt war, wurde es uns bewußt, in welcher Spannung wir die letzten zwei Jahre in Peking gelebt hatten. Wir gewöhnten uns erst nach und nach die Angst ab; als sie wich, blieb eine Art Erschöpfung zurück, aus der wir langsam in eine normale Daseinsform fanden. Es wurde uns bewußt, vor wie vielen Schrecken uns das Schicksal bewahrt hatte, daß wir im Vergleich zu dem Furchtbaren, das so viele, die wir kannten, erleben mußten, immer behütet und gut davongekommen waren. Auch Etzel war nun dankbar, daß wir Peking hatten verlassen müssen; fast hätte ihm der Abschied das Herz gebrochen - und das ist an dieser Stelle keine leere Redensart. Bald nachdem wir abgereist waren, wurden fast alle Euro­päer und Amerikaner in Peking ins Gefängnis geworfen. Schwester Gertrud blieb frei; sie wurde auch von den Chinesen ob ihrer großen Hilfsbereitschaft verehrt; so erhielt sie jetzt Hilfe, bis sie ausreisen

konnte. Alle Patres der Katholischen Universität wurden eingekerkert. Der Pater, mit dem wir am engsten befreundet waren, besuchte uns zwei Jahre später, nach seiner Freilassung und Heimkehr. Er war kläg­lich abgemagert. Jedesmal, wenn er hinter sich ein Geräusch hörte, zuckte er zusammen. Nur ein fester Glaube konnte die Gefangenen aufrechthalten; nur Glaube half gegen die Gehirnwäsche. Jannings, der erst mehrere Jahre nach den Patres entlassen wurde, sagte: "Wer keine Religion hatte, konnte die Gefangenschaft nicht durchstehen."

Wir mußten nun in Deutschland eine Lehre besonderer Art durch­machen. In unserem Leben fehlten zwei bedeutende Abschnitte, durch die unsere Verwandten und Freunde hatten hindurchgehen müssen, die Nazi-Zeit und der Krieg. Mit keinem konnten wir das Verhältnis da wieder aufnehmen, wo es abgebrochen war. Keiner, sei er nun für oder gegen Hitler gewesen, war unter seiner Herrschaft und im Kriege unverändert geblieben; jeder trug schwer an den Folgen und Erinne­rungen an diese schrecklichen Zeiten. Uns fehlte diese Vergangenheit; was wir gehört hatten, war fast alles Lüge gewesen. Das stand wie eine Mauer zwischen uns und den Menschen, die wir von früher her gut zu kennen meinten. Wir mußten aufholen; wir mußten Geschich­te lernen von denen, die sie erlebt hatten. Ganz langsam ging das; wir mußten kleine Steine, Erzählungen, Meinungen zusammenfügen, um zu verstehen, was geschehen war, was die Grundlagen des gegenwär­tigen Lebens bildete, in was für einem Deutschland wir uns nun befan­den. Wir lernten Vorsicht in der Beurteilung, im großen und im klei­nen. Über eine Einstellung, der ich immer wieder begegnete, wunderte ich mich zuerst: Krieg und Not hatten so manches hinweggefegt an Gebräuchen, an Überflüssigem, an Vorurteilen. Die Jugend wußte das zu nutzen, aber unsere Generationen krochen ängstlich in die alten, leeren Formen zurück, anstatt die Freiheit eines neuen Anfangs zu begreifen. Erst nachdem ich sah, daß so unendlich viel mehr verloren gegangen war als jene alten, nun überalterten Formen, verstand ich, daß sie noch einen Teil einer ersehnten Sicherheit verkörperten.

Etzel fühlte sich bald wieder in Aachen zu Hause. Eine sehr alte Dame sprach ihn auf der Straße an: "Du bist doch der schwarze Consten! Ich bin die Fini." Es war eine seiner Jugendlieben.

Wir kamen mitten hinein in den neuen Aufbruch geistigen Lebens nach der langen Erstarrung. Wir hörten mindestens einen Vortrag in der Woche, im Außeninstitut der Technischen Hochschule, im Englischen Zentrum "Die Brücke", im Kunstmuseum. Oft saßen wir nach­her mit den Vortragenden zusammen in lebhaftem Meinungsaustausch. Die Deutschen waren geistig hungrig; sogar wir konnten manchmal ein Krümchen Nahrung beisteuern. Etzel sagte oft: "Der Kreis schließ! sich." Auch im letzten Hafen seines Lebens konnte er teilhaben um geschäftigen Treiben.

Es war gut, daß die ersten Monate in Deutschland mich so ver­schreckt hatten, daß ich kaum aufzusehen wagte, als ich im April 1951 meine Lehrtätigkeit an der Technischen Hochschule begann. Ich gehörte zum Kunsthistorischen Institut der Abteilung Architektur l-s fing damit an, daß der Ordinarius für Kunstgeschichte die Hände über dem Kopf zusammenschlug: "Was soll ich mit einer Chinesin!" Ehe wir eine Wohnung hatten, lag meine ganze Bibliothek auf einem gro­ßen Tisch im Institut.

Ich saß still in der hintersten Ecke des Instituts. Dort stand ein praktischer Apparat, mit dessen Hilfe man Lichtbilder machen konn­te. Dias waren ein mir bis dahin unbekannter Luxus. Nun brauchte ich sie zu Hunderten und mußte sie selbst machen, auch das Kleben und Beschriften. Es war eine zeitraubende Arbeit, aber so wurden die Dias genau, wie ich sie haben wollte; niemand redete mir hinein. In meinen eigenen Büchern fand ich alle Vorlagen, die ich brauchte. Ich stellte keinerlei Ansprüche - bald waren der Ordinarius und der Assistent meine guten Freunde.

Die übrigen Mitglieder der Fakultät betrachteten mich anfangs mit verständlichem Mißtrauen. Sie arbeiteten fast alle an Wettbewerben für größere Projekte des Wiederaufbaus; sie wollten keine Konkurrenz in ihrer Mitte großziehen. Als sie merkten, daß von mir gar keine Gefahr drohte, sahen sie mich freundlicher an - oder gar nicht. Dei Architekturprofessor mit dem bekanntesten Namen schnitt mich ein­fach, selbst als wir an einem Festabend am selben Tisch saßen. Das focht mich nicht an; ich wußte, daß ich nichts zu sagen hatte, und ich sagte nichts. Am Schluß des ersten Semesters wurde ich aufgefordert, in einem Sonderkursus einen Vortrag zu halten; er war zufällig dabei Als ich geendet hatte, fragte er mich, ob er mich nach Hause fahren dürfe. Ich schlug die Augen nieder, denn es muß in ihnen geblitzt haben, und sagte: "Vielen Dank - ich wohne aber in Aisdorf." Das war immerhin mit dem Bus eine halbe Stunde Entfernung. Er hat mich heimgebracht, und wir wurden und blieben die besten Freunde

Mit den Assistenten stand ich auf gutem Fuß. Wenn ich etwas bes­ser zu wissen glaubte, sagte ich: "Nun hört mal auf die Großmutter!" So nannten sie mich fortan, und sie hörten auf mich. Meine Vorlesung wurde unter den Studenten nur langsam bekannt, da meines kein Pflichtfach war. Ich kündigte den Assistenten an, sie bekämen so viele Schokoladenplätzchen, wie ich Hörer hätte - um jeden Hörer gebüh­rend zu feiern. Als ich den Hilfsassistenten vor der ersten Vorlesung des Semesters bat, im Hörsaal nachzuschauen, ob die Studenten strömten, meldete er: "Frau Professor, eine Dame strömt." Es blieb nicht so karg, und später strömten sie wirklich.

Ein ganz junger Kollege streute das Gerücht aus, ich führte meinen Titel zu Unrecht. Das hatte das Gute, daß ich ihn mir amtlich bestätigen ließ; die Universität in Peking wurde als unseren Hochschulen gleichwertig anerkannt. Den jungen Mann hatte wohl der Neid benagt. Als Etzel und ich zwei Jahre später in Florenz im Baptisterium die subtile Mischung der Grautöne in diesem Bau bewunderten, fiel mir ein farbiger Mißklang auf; ich meinte, das könne nur die Aachener Regenmantelfarbe sein. Es war mein Widersacher; von diesem Zusam­mentreffen an haben wir uns gut vertragen.

Damals gehörte ich in der Hochschule zu den Nichtordinarien. Wir hatten unseren Verband und unsere Sitzungen; wir wählten unsere Vertreter in die Fakultät, in der wir sonst nichts zu sagen hatten. Die Nichtordinarien vertraten jeder ein Gebiet innerhalb der Fakultät; sie wußten und leisteten so viel wie ein Ordinarius, aber sie hatten keinen eigenen Lehrstuhl. Wenn man die Bezeichnung für die Mitglieder ei­nes Standes nicht von dem ableitet, was sie leisten, sondern nur von dem, was sie nicht sind, dann kann man sich nicht wundern, wenn das also angeschlagene Selbstbewußtsein sich in Unzufriedenheit und Aufsässigkeit äußert. Die Sitzungen waren mir darum recht unange­nehm. Ich bin nie Ordinarius gewesen und bin dem Schicksal dankbar, das mich auf keinen Lehrstuhl setzte. Ich habe mich ganz auf For­schung und Lehre konzentrieren können; nie wurden mir administra­tive Aufgaben aufgezwungen, die den Ordinarien viel Zeit und Kraft rauben. Ich konnte mir nichts Schöneres denken als lehren zu dürfen; meine Studenten müssen das wohl gespürt haben. Ich gab mir Mühe herauszufinden, was meine Hörer, die alle Architekten werden woll­ten, brauchten und wünschten; sie dankten es mir. In der Fakultät wurde ich ernst genommen, wenn auch meine Stellung dies nicht erforderte.

Ich griff ein neues Thema auf: Das Japanische Haus. Es lag sozusagen in der Luft. Die Architektur der fünfziger und sechziger Jahre war der japanischen in manchen Zügen ähnlich und nahm auch bewußt Einflüsse auf. Als ich diese Vorlesung zum ersten Mal ankündigte, sagte ein Kollege zu mir: "Ja, können Sie denn das? Das ist doch sehr schwer!" Ich habe zwanzig Jahre lang bewiesen, daß ich es konn­te. Meine Vorlesung wurde in den Lehrplan der ersten Semester auf genommen; später wurde sie und ein auf ihr fußendes Seminar als Vertiefungsfach vor dem Hauptexamen anerkannt. Im Vorlesungsver­zeichnis stand: "Das japanische Haus und der moderne amerikanische Wohnbau." Zuerst kamen die Studenten vor allem wegen des zweiten Teils dieses Titels - und bekamen das japanische Haus bis in die letzte architektonische Einzelheit erklärt. Jeden Winter mußte ich nun diese Vorlesung halten, und jedesmal kam anderes und neues darin vor; sie hielt Schritt mit den Entwicklungen der zeitgenössischen Architektur, vor allem in Amerika. Ich habe mir nie etwas zu diesen Vorlesungen aufgeschrieben, um mich nur ja nicht festzufahren. Noch immer, nach zwanzig und dreißig Jahren, werde ich von Architekten, an deren Gesichter und Namen ich mich wirklich nicht mehr erinnern kann, angesprochen auf das japanische Haus und die Wirkung meiner Vorle­sung auf sie. Ich hatte da so etwas wie eine Marktlücke entdeckt; ich habe mich bemüht, sie gründlich auszufüllen. Die Zeit war reif für dieses Thema; heute müßte ich mir etwas anderes einfallen lassen

In den kürzeren Sommersemestern las ich über eines von den vie­len Themen zur Kunstgeschichte Ostasiens, jedes Jahr über ein ande­res. Neu an die Abteilung Architektur berufene Professoren hörten sich die eine oder andere Vorlesung von mir an. Ich wurde zu der Beurteilung der Diplomarbeiten hinzugezogen und oft auch zu den Abteilungssitzungen, selbst wenn ich in dem Semester nicht Nichtordinarienvertreter war. Später wurde die zweitrangige Stellung der Nichtordinarien abgeschafft, und ich gehörte zur Fakultät. Ich hätte mir keine besseren Kollegen wünschen können; sie haben mich aner­kannt und gefördert. Viele wurden Freunde. Jeder braucht ab und zu die Nachsicht seiner Kollegen; sie wurde mir immer zuteil. Natürlich hatte ich und machte ich Fehler. Niemand kann verlangen, daß ich sie hier aufzähle. Ich würde sie lieber vergessen, aber sie sind dazu aus­ersehen, schlaflosen Nächten Inhalt zu geben. Ich erinnere mich lieber an meine guten Seiten.

Von dem interessanten und oft aufregenden Leben in Peking war ich zwar ein Teil gewesen, aber nur ein kleiner, eine Randfigur. Seit­dem ich nach Deutschland kam, wurde das Leben überschaubar und leichter vorhersehbar, ohne Turbulenzen, die immer wieder Bahn und Plan zerstörten. Nun sah ich mich im Mittelpunkt des an mir und um mich Geschehenden. Nun wurde ich beachtet und anerkannt. Mein Leben war nicht mehr Beobachten, sondern Schaffen und Erreichen, nicht mehr Überleben, sondern Vorankommen. Ich war dreiundvierzig, als ich in Aachen anfing, als ich aus einem Leben, das vorwiegend eines des Aufnehmens gewesen war, in ein Leben eintrat, in dem ich zunehmend zu geben vermochte; in dem ich an Jüngere weitergab, was mir gegeben worden war.

Ein neuer Ordinarius der Kunstgeschichte hätte gerne eine Sekre­tärin gehabt. Sie stand ihm zu. Ich aber saß als Angestellte auf der dafür vorgesehenen Planstelle und katalogisierte die Bibliothek. So schlug er mir vor, mich zu habilitieren. Dies Ziel war bald erreicht. Ich erhielt die venia legendi für "Asiatische Kunst- und Architektur­geschichte."

Die Tochter von lieben Freunden aus den Pekinger Jahren war ge­rade mit ihrer Familie nach Aachen gezogen. Sie suchte eine Stelle. Ich brachte sie zu meinem Ordinarius. Er hatte allen Grund, mir dank­bar zu sein; er bekam eine kluge, vielseitig gebildete, sprachkundige Hilfe, die überdurchschnittlichen Anforderungen gewachsen war. Unser Institut wurde von anderen Lehrstühlen um sie beneidet. Bald verband uns eine herzliche Freundschaft, die nun, nach fast vierzig Jahren, ein wichtiger Bestandteil meines Lebens ist. Sie blieb nicht immer Sekretärin, sondern rückte auf, war aber bis zum Erreichen der Altersgrenze in der Hochschule tätig, in einer Stelle, die ihren Fähig­keiten vielleicht immer noch nicht ganz entsprach, aber wo sie diese voll einsetzen konnte. Mir hat sie immer wieder geholfen. Uns ver­band auch die Liebe zu guter deutscher Sprache. Wenn sie etwas für mich schrieb, so konnte ich sicher sein, daß ich nötige und kluge Kritik von ihr bekam. Heute bin ich meiner Sprache nicht mehr so sicher wie früher; wenn sie aber durchsieht und korrigiert, was ich schreibe, weiß ich, daß es meinen Anforderungen an mich selbst ent­spricht. Dies ist nur ein Teil dessen, was mir, der Alternden, durch diese Freundschaft geschenkt wird.

Der Ordinarius förderte mich nicht nur um der Sekretärinnenstel­le willen, sondern wirklich aus Achtung und Freundschaft. Ich rückte zur Dozentin auf. Als das Ministerium einige "Wissenschaftliche Räte und Professoren" bewilligte, fiel eine der Ernennungen auf mich. Außerordentlicher Professor wurde ich drei statt der üblichen sechs Jahre nach der Habilitation.

Ich ging jeden Morgen mit der Überzeugung in die Hochschule, daß es ein guter Tag werden würde. Lampenfieber hatte ich immer vor der Vorlesung, aber wenn man frei spricht, muß man Lampenfieber haben, sonst wird's nichts. Es hatte keinen Sinn, daß ich mir Formulierungen vorher zurechtlegte; die guten stellten sich erst ein, wenn ich im Hörsaal stand und Angst hatte, daß mir nichts einfallen würde. Das ist nie vorgekommen.

Früher stand vor dem Hauptgebäude der Technischen Hochschule ein kleiner, drahtiger Wachmann mit einem großen Schäferhund. Je­den Morgen, wenn ich vorbeikam, begrüßte er mich: "Guten Morgen, Fräulein." Ich hätte ihm so gerne die Aufklärung erspart; sie geschah, als ich am Tage der Rektoratsübergabe im Talar im feierlichen Zuge der Professoren die Aula betrat. Er wurde blaß, und es war zu Ende mit dem morgendlichen Gruß.

1955 wurde uns eine Wohnung in Aachen zugesprochen; Stadtwohnungen waren immer noch schwer zu bekommen. Sie war in einem alten Haus, das Freunden gehörte und von drei Generationen bewohnt wurde. Im kriegszerstörten und nun ausgebauten Erdgeschoß erhielten wir drei größere Räume und einen kleineren, den ich anspruchsvoll mein Boudoir nannte. Als sie bezugsfertig waren, lag ich im Kranken­haus. Ich bin sehr selten krank. Aber damals starrte ich Tag um Tag an die Wand und wurde nicht gesund. Es half auch nichts, daß Etzel mir alle paar Tage ein anderes chinesisches Bild aus unserer Sammlung an die Wand hing. Ich lernte zwar jeden Pinselstrich bewerten, aber es ging mir wochenlang nicht besser; niemand wußte warum. Eines Ta­ges sagte ich mir: "Denk' nach! Psychoanalysiere dich und finde die Ursache!" Bei der nächsten Visite erklärte ich dem Arzt, ich klammere mich aus Angst vor dem bevorstehenden Umzug an das Krankenbett. Er besprach sich mit Etzel. In der folgenden Woche war zu Hause alles ausgeräumt und verpackt. Ich skizzierte den Plan für die Möblierung der neuen Wohnung. Etzel zog mit umsichtiger und tatkräftiger Unter­stützung unserer Putzhilfe um. Bald darauf kam ich aus dem Kranken­haus in unser neues Heim, voller Tatendrang, die Einrichtung zu vollenden.

Allmählich ersetzten wir die Rohholzregale durch richtige Möbel, aber nicht alle; wir fanden ihre Vorhänge schöner als Schranktüren. Meine Habilitation konnten wir schon in der neuen Wohnung feiern. Unser Freundeskreis wuchs; wir hatten oft Gäste. Etzel kochte chine­sisch und erzählte aus seinem Leben. Unsere Verwandten aus Ham­burg kamen und freuten sich mit uns an unserer schönen Umgebung.

Einmal wurde die Schönheit ein wenig getrübt. Unser Freund und Hausherr, der mit seiner Frau und Tochter über uns lebte, badete den Pudel. Dabei muß wohl mehr Wasser als nötig aus der Leitung geflos­sen sein; auf der Decke unseres Eßzimmers mit Kochecke erschienen riesige braune Flecken. Natürlich hätten die Hausbesitzer die Decke streichen lassen. Aber wir hatten nun den Umzug hinter uns; der Ge­danke, daß wir schon wieder für die Maler aus- und umkramen müßten, war erschreckend; wir zögerten. Eines abends ging Etzel zu sei­nem Stammtisch. Daß er sich mit den Alten Herren der Burschenschaften regelmäßig traf, war eines der kleinen Geschenke des Lebens in Aachen für ihn; er hatte etwas vor, das nur ihn betraf und nicht im geringsten von mir abhing. Ich hatte bereits blaue und rote Farbe besorgt; auf diese war der Raum abgestimmt. Wir besaßen auch eine hohe Leiter. Ich bemalte die Decke. Das Motiv stahl ich mir von der japanischen Schale, aus der Etzel morgens seinen Haferbrei aß - seit wir nicht mehr ritten, brauchte ich keinen mehr zu essen. Es gibt im japanischen Kunstgewerbe eine besonders reizvolle Stilisierung für kleine Vögel, die am Strand über den Wellen fliegen. Nun flogen sie bei uns an der Decke. Man konnte das blaue Linienmuster, das sie umgab, auch als Wolken deuten. Die Vögel hatten rote Umrisse. Die Verteilung der Flecken bestimmte die Komposition; sie wurden zwar nicht völlig verdeckt, konnten aber als Teil der Deckenmalerei, als eine Art Bewölkung als Hintergrund für die Vögel aufgefaßt werden. Es ist gar nicht leicht, auf der Decke mit Schwung Linien zu ziehen; der Arm ist nicht so ungehemmt in der Bewegung wie auf der senk­rechten Wand. Ich und Michelangelo wissen um diese Schwierigkeit. Ich zog einen Strich - runter von der Leiter, Wirkung geprüft, näch­sten Strich geplant - rauf auf die Leiter, Linie gezogen - runter von der Leiter, Effekt beurteilt - rauf auf die Leiter. Jeder Strich mußte sitzen; Korrekturen und Übermalungen waren nicht möglich. Als Etzel nach Hause kam, war alles aufgeräumt. Ich lag im Bett, hatte die Decke bis zur Nase gezogen und die Augen geschlossen. Etzel mach­te im Eßzimmer Licht an und kam schnell ins Schlafzimmer: "Hat Anne das gemalt?" Anne war die jüngste Tochter des Hauses, Kunsterzieherin und eine begabte Malerin. Ich reckte meinen Kopf aus den Kissen - Etzel hatte mein Werk gutgeheißen. Er war sogar stolz auf mich. Diese Deckenmalerei war jahrelang eine Sehenswürdigkeit in unserem Heim. Über ihren Kunstwert will ich selbst nichts sagen -oder nur nebenbei: sie war nicht schlecht -, aber Seltenheitswert hat­te sie!

Für mich galt immer noch die Regel: Wenn ich etwas haben will, dann muß ich es, wenn irgend möglich, selber machen. Als ich in die Stellung aufrückte, die mir erlaubte, bei feierlichen Anlässen in der Hochschule den Talar zu tragen, konnte ich mir den darauf spezialisierten Schneider unmöglich leisten. Ich lieh mir von einem Kollegen seinen Talar und kopierte ihn genau, mit allen seinen Fältchen. Der Unterschied war nur, daß meiner mit der Hand genäht war; eine Nähmaschine besaß ich nicht. Die dazugehörige Kopfbedeckung war zum Mißfallen meiner männlichen Kollegen wie eine Kochmütze gestaltet. ich gab ihr einen kleinen Kniff nach einer Seite - und wurde nun von den Professoren um sie beneidet.

Ich war damals in der Fakultät für Bauwesen die einzige Frau und nicht die einzige Professorin an der Hochschule. Zwei bedeutende Wissenschaftlerinnen hatten Lehrstühle inne. Langsam wuchs im Lau­fe der Jahre die Zahl der weiblichen Lehrkräfte. Man hat in den letz­ten Jahren mehrfach versucht, mich in Statistiken zu verwerten, mei­nen Werdegang zu typisieren oder als Vorbild zu verwenden. Ich passe aber weder in ein altes Schema noch in ein neues. Daß ich Karriere machte, lag an so vielen Imponderabilien, die sich glücklich zusam­menfanden, daß ich der Tatsache, daß ich eine Frau bin, nicht zu viel Gewicht beimessen will. Im Gegenteil, gerade zu der Zeit, als man offiziellen Verlautbarungen zufolge das weibliche Element in den Lehrkörpern der Universitäten stärken wollte, erlitt ich meine schwer­sten Rückschläge. Um als Frau Erfolg zu haben, muß man natürlich soviel können wie ein Mann. Damals mußte man in vielem sogar mehr können als ein Mann, oder wenigstens mehr tun. Auch da hieß es für mich: Große Aufgaben und unscheinbare Arbeiten selber anpacken, ohne Hilfe. Ein größeres Wissen als meine männlichen Kollegen will ich mir nicht anmaßen - keineswegs! Ich erbrachte die erforderliche Leistung, und man war so großzügig, mich mit dem für männliche Kollegen üblichen Maß zu messen und auch dementsprechend zu befördern. Das war nicht selbstverständlich; es war, wie gesagt, eine glückliche Konstellation. Ich mag nicht als Professorin bezeichnet werden. Professor ist ein Titel, der nicht mehr Männern vorbehalten ist. Er sollte als Neutrum angesehen werden, das auf beide Geschlechter anwendbar ist. Frauen wollen Gleichstellung; warum bestehen sie auf einer törichten Unterscheidung durch häßliche Sprachformen? Als die ersten Frauen promovierten, sagte man Fräulein Doktor, und bei Frau Doktor ist man geblieben. Doktor ist nicht mehr ein Maskulinum; Professor brauchte es auch nicht zu sein. Ich halte dies für eine bessere Lösung als feministische Sprachzerstörung. Neulich bekam ich ein Schreiben von meiner Hochschule, adressiert an "Herrn Pro­fessorin Dr. phil. . ." Ist das die neueste Lösung des Problems?

[...]

 

Aus: Eleanor von Erdberg, Der strapazierte Schutzengel. Erinnerungen aus drei Welten, Waldeck 1994, S. 327 - 339 (mit freundlicher Genehmigung des Verlags).